Dienstag, 14. Februar 2012

The Turin Horse

Deutschland/Frankreich/
Schweiz/Ungarn 2011

S/W 149 Minuten


Regie:Béla Tarr
Darsteller:
János Derzsi,

Erika Bók,
Mihály Kormos,
Ricsi

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"The Turin Horse" beginnt mit einem schwarzen Bildschirm und einer Stimme, die aus dem Off heraus die Legende um den Beginn des geistigen Zerfalls Friedrich Nietzsches' erzählt:

„Am 3. Januar 1889 tritt in Turin Friedrich Nietzsche durch die Tür des Hauses Via Carlo Alberto 6. Nicht allzu weit weg von ihm hat der Kutscher einer Pferdedroschke Ärger mit einem widerspenstigen Pferd. Trotz all seiner Ermahnungen weigert sich das turiner Pferd, sich in Bewegung zu setzen, woraufhin der Kutscher die Geduld verliert und zur Peitsche greift. Nietzsche nähert sich dem entstehenden Gedränge und setzt dem brutalen Verhalten des Kutschers ein Ende, indem er schluchzend seine Arme um den Hals des Pferdes legt. Sein Vermieter bringt ihn anschließend nach Hause, und zwei Tage lang liegt er bewegungslos und stumm auf dem Sofa, ehe er berühmte letzte Worte spricht und noch weitere zehn Lebensjahre stumm und umnachtet unter der Obhut von Mutter und Schwestern verbringt. Was mit dem Pferd geschah, wissen wir nicht.“

Was auf diese einläutenden Worte folgt, ist die erste minutenlange Kamerasequenz, die in stimmigen Schwarz-Weiß-Bildern den Heimweg eines alten Bauern auf seiner klapprigen Kutsche einfängt. Der immer stärker aufkommende Sturm macht ihm, als auch seinem Gaul, dabei deutlich zu schaffen. Auf dem Hof angekommen hilft die Tochter des Bauern tatkräftig aus, um Pferd und Gespann zu verstauen.


Für den Zuschauer und das Dreigespann, welches eine starke Interdependenz verbindet, beginnt nun das "beckettsche" Warten. In etwa 30 langen Kameraeinstellungen folgt die puristische Darstellung des bäuerlichen Alltags und die Zeichnung einer nihilistischen Weltansicht. Durch den starken Sturm fast vollständig von der Außenwelt abgeschnitten reduziert sich das gesamte Geschehen nun auf die kleine Steinhüte des Gehöfts. Tarr insziniert auf brutal detaillierte Art und Weise die tumbe Monotonie der nächsten fünf Tage die diesen Kosmos umhüllt.

Die überragende Kameraarbeit von Fred Kelemen fängt die sich täglich wiederholende Arbeit dabei stets gekonnt und liebevoll ein. Sei es der quälende morgendliche Gang der Tochter zum abgelegenen Brunnen, um Wasser zu holen, oder das paralysierte Starren des Vaters zum Fenster hinaus. Minutenlange Kamera-Choreografien erfassen nahezu jeden Winkel des filmischen Raums, wobei die Handlung nie aus den Augen verloren wird.

So durchbricht etwa ein Nachbar den kargen Alltag, auf der Suche nach etwa Pálinka mit dem er seine leere Flasche füllen kann. Sein Auftritt wird in einer sieben Minuten langen Sequenz geradezu zelebriert. Die Kamera empfängt den Besucher zunächst, um im Anschluss den Weg der leeren Flasche akribisch genau zu verfolgen. Durch die Tochter und den hauseigenen Schnaps-Vorrat gefüllt, landet diese letztlich auf dem Tisch, wo sich der Nachbar bereits zu einem ausgedehnten Monolog über Gut und Böse auf dieser Welt hingerissen hat. Nach seiner wortgewaltigen Belehrung verlässt er das Haus, wobei die Kamera seinen Abgang durch das Fenster der Steinhütte hindurch verfolgt. Eine grandiose Szene.

[Exkurs: Ein gelungenes Interview mit Fred Kelemen über den Film und seine Arbeit an der Kamera findet sich HIER]


Neben dem Nachbarn kommt es zu einer weiteren Konfrontation mit der Außenwelt (auch diese Szene ist fantastisch inszeniert - siehe Interview). Umherstreunende Zigeuner, die zunächst an den Wasservorräten und dann an der Tochter interessiert sind, finden ihren Weg in diese Einöde. Mit ihrem ausgeprägten Sinn für Freiheit, formen sie das Gegenstück zu den eintönigen Alltagsmechanismen, in denen die Bauernfamilie gefangen zu sein scheint. Deren menschliche Existenz wird heruntergebrochen auf die routinierte Abfolge von Notwendigkeiten. Schrieb Milan Kundera über die "Unerträgliche Leichtigkeit des Seins", scheint es, als wolle uns Tarr die "Unerträgliche Schwere des Seins" aufzeigen. Das irdische,endliche und so tumbe Sein findet seinen Ausweg dabei in der unbekannten dunklen Leere. Das Zusteuern auf dieses Nichts findet seine Prophezeiung bereits in dem immerwährenden Orkan, der um das Haus herum wütet. So gibt es am vierten Tag bereits kein Wasser mehr in dem sonst so spendablen Brunnen, und am Tag daruf erlischt sogar das Licht am Himmel. Die beiden Protagonisten verschwinden langsam in der unaufhaltsamen Finsternis.


Béla Tarr ist ein großartiger existenzieller Grundlagenkurs über den deprimierenden (Un)Sinn des Lebens gelungen. Laut eigener Ankündigung stellt "The Turin Horse" seine letzte filmische Vision dar. Zwar ist diese äußerst sperrig und damit wohl für viele ungeeignet, doch belohnt sie den geduldigen Zuschauer gleichzeitig durch Vielschichtigkeit und, dank großartiger Kameraarbeit, filmische Eleganz.

Natürlich erzählt "The Turin Horse" nicht wirklich die Geschichte des berühmt berüchtigten Pferdes. Aber weil es so passend erscheint, soll zur Schließung des Kreises noch einmal ein Zitat von Nietzsche bemüht werden: "Das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeindlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: die ewige Wiederkehr. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts ewig."



Review by Maiden


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